[SL] Ziemlich unausgelastet

Es gibt Situationen, da wird eine geringe Auslastung gern in Kauf genommen, im IT-Projektgeschäft habe ich das allerdings noch nie gesehen.

Der Gast an der Hotelbar wird meist gleich bedient, dafür ist aber auch der Barkeeper oft unbeschäftigt. Den Leerlauf füllt er klassischerweise mit dem Putzen von Gläsern. Das sieht nicht nur besser aus, als einfach rumzustehen. Er kann es auch sofort unterbrechen, sobald ein Gast etwas bestellen will. Wenn dann mal eine ganze Reisegruppe an die Bar kommt, ist der Barkeeper eine Zeit lang zu 100% ausgelastet, und es bildet sich eine Warteschlage. Auf den ganzen Arbeitstag bzw. die Arbeitswoche hochgerechnet, ist der Barkeeper vielleicht zu 50% ausgelastet, d.h. nur in der Hälfte der Zeit erbringt er bezahlte Leistungen.

Unser (natürlich frei erfundener) auslastungsfixierter BWLer würde hier gleich Einsparungspotenzial sehen: 50% Leerlauf? Da kann man dem Barkeeper doch weitere Aufgaben geben, oder? Das Gehalt bezahlen wir ja sowieso, da kann er doch ein paar Stunden am Tag an der Rezeption aushelfen. Oder nebenan Bettwäsche falten.

Sie sehen schon, ein Hotelbesitzer würde diese neue Einsparungsidee nicht gerade euphorisch begrüßen. Weil die Servicequalität leidet, und die besteht auch aus der Komponente “Verfügbarkeit”.

Ein weiteres Beispiel für die Abwägung von Verfügbarkeit und Auslastung ist die Feuerwehr. In meiner naiven Vorstellung sitzen Feuerwehrmann Sam und KollegInnen stundenlang in ihrer Feuerwache und trinken Tee bzw. pflegen ihre Fahrzeuge. Dafür können sie sofort starten, wenn mal wieder irgendwo ein Feuer ausbricht oder jemand gerettet werden muss.

In der Realität ruft die Berliner Feuerwehr für den Rettungsdienst den sogenannten Ausnahmezustand aus, sobald 80% der verfügbaren Fahrzeuge ausgelastet sind. Dann werden Löschfahrzeuge aus dem Dienst genommen, um die Rettungswagen besetzen zu können. Zitat: “Wir werden dann bei der Brandbekämpfung deutlich langsamer”, sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein. “Bei dem großen Dachstuhlbrand am Montag in der Neuköllner Richardstraße war zum Glück kein Ausnahmezustand.” Auch die medizinischen Notfälle müssen dann länger warten: “So sei am Donnerstag während des Ausnahmezustandes ein Kind mit Atemnot erst spät behandelt worden. Ein Bauarbeiter, der am selben Tag von einem Gerüst fiel, habe ebenfalls viel zu lange auf die Retter warten müssen.” Hohe Auslastung bedeutet also auch bei der Feuerwehr geringere Verfügbarkeit und längere Wartezeiten.

Im Projektgeschäft haben wir unsere Schwierigkeiten mit dem Nachdenken über Auslastung. Der Zusammenhang zwischen hoher Auslastung und langen Durchlaufzeiten wird oft nicht gesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass Auslastung im laufenden Betrieb fast nicht zu messen ist: die Leute sind einfach immer mit irgendwas beschäftigt.

Was kann man tun? Zum Beispiel eine rationale Grundlage für die Abwägung zwischen Auslastung und Verfügbarkeit bzw. Durchlaufzeiten schaffen. Also die Kosten für die Kapazitätsreserve (geringere Auslastung) den Verzögerungskosten gegenüber stellen, die durch längere Durchlaufzeiten entstehen. Oder eben den Fokus auf die Verkürzung der Durchlaufzeit legen; dabei ergeben sich so viele Verbesserungen, dass es eher nebensächlich ist, ob die Auslastung nun 70% oder 90% beträgt.

Matthias Berth

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