[SL] Woran erkennt man die überlastete Projektorganisation?

Das hatte ich noch nie erlebt: Ich war zum Silvestereinkauf im großen EDEKA Supermarkt. Als ich ungefähr auf der Hälfte war, stieß ich auf eine Schlange; mitten im Supermarkt stand eine lange Reihe von Leuten mit ihren Einkaufskörben. Gibt’s irgendwo was umsonst? Stehen die nach Böllern an? Nein, sie wollen nur bezahlen, und das hier ist der Rückstau. Alle Kassen waren besetzt und vor jeder Kasse standen sie bis weit in den Markt hinein. Auf meinem Weg zur Getränkeabteilung musste ich mehrere solcher Schlangen durchqueren. Ganz klar: der EDEKA war an diesem Vormittag (Silvester!) überlastet und ich würde nicht mehr rechtzeitig zum Mittagessen nach Hause kommen.

Was ist eigentlich Überlastung bzw. Auslastung?

Auslastung = Ankunftsrate / Abarbeitungsrate

Wenn 15 Leute pro Minute in den EDEKA kommen, aber nur 10 Leute pro Minute an den Kassen abgefertigt werden können, dann ist die Auslastung 150%, das System ist also überlastet. Als Folge davon bleiben immer mehr Leute in der Schlange stecken.

An einem normalen Tag ist die Ankunftsrate kleiner als die Abarbeitungsrate. Es kommen z.B. 3 Leute pro Minute an, und man kann 10 Leute pro Minute abkassieren, wenn alle Kassen voll besetzt sind. Das entspricht einer Auslastung von 3 / 10 = 30%. Der Marktleiter wird in dieser Situation wahrscheinlich nicht alle Kassen besetzen. Vielleicht wird er nur die Hälfte der Kassen öffnen, dann können man immer noch 5 Leute pro Minute abkassiert werden und man hat 3 / 5 = 60% Auslastung.

Der Supermarkt hat gegenüber einer Projektorganisation den Vorteil, dass alle das Geschehen direkt beobachten können. Die Wissensarbeit in Projekten ist dagegen zum großen Teil unsichtbar. Wir sehen die Warteschlangen nicht und sie werden auch nicht lästig – ob das Ticketing-System nun 50 Tickets verwaltet oder 5000 ist unerheblich.

Mit dieser Vorrede können wir uns der Frage widmen: an welchen Symptomen erkennt man die überlastete Projektorganisation? Also eine Projektorganisation, bei der mehr Aufgaben ankommen, als abgearbeitet werden können?

Ankunftsrate größer als Abarbeitungsrate. Beide Raten könnte man natürlich im Supermarkt relativ einfach messen. Im Projektkontext wird es aber schwierig, weil wir durchschnittliche Werte brauchen, die man nur über längere Zeiträume gewinnen kann. Denken Sie etwa an einen Tag, an dem 50 neue Tickets angelegt werden, weil gerade eine neue Testkampagne läuft. Wir werden die Überlastung also nur mit Verzögerung messen, und die Zahl wird mit Unsicherheit behaftet sein. Wenn man lange Zeiträume betrachtet bzw. wenn die Überlastung chronisch ist, wird man natürlich auch dieses Symptom deutlich sehen.

Lange Durchlaufzeiten. Wie lange dauert es, bis eine Idee beim Kunden in Form von fertig implementierten Features ankommt? Im Supermarkt würden wir uns am Ausgang hinstellen und die Kunden fragen: “Wann sind Sie angekommen?”, und daraus die Verweildauer im Supermarkt berechnen. Im Projektgeschäft müssen Sie vorsichtig sein: Wenn Sie einfach nur die Verweildauer von abgearbeiteten Aufgaben bestimmen, ergibt sich ein verzerrtes Bild. Es wird nämlich nach Prioritäten abgearbeitet, dadurch werden die Feuerwehraktionen natürlich schneller fertig. Für ein realistisches Bild müssen wir auch die Aufgaben in den Durchschnitt einbeziehen, die noch in der Projektorganisation festhängen.

Hoher Anteil an Wartezeit. Wie hoch ist der Anteil von Wartezeit an der gesamten Durchlaufzeit von Projektaufgaben? Beim Silvestereinkauf stand ich den größten Teil meiner Einkaufszeit in der Schlange vor der Kasse. Wieder ergibt sich ein verzerrtes Bild, wenn man nur die gerade abgearbeiteten Aufgaben erfasst.

Lange und wachsende Warteschlangen. Wenn die Auslastung größer als 100% ist, wächst die Warteschlange immer weiter. Im Supermarkt führte das zu der ungewöhnlichen Situation, dass sich die Leute bis weit in das Hinterland stauten. In Projektorganisationen kann man auch oft wachsende Schlangen beobachten, z.B. wird die Zahl der offenen Tickets mit der Zeit immer größer. Oder eine Ebene höher: die Anzahl laufender Projekte im Portfolio wächst immer weiter.

Viel WIP (work in process). Im Supermarkt sind das die Kunden, die gerade einkaufen. Im Projektgeschäft ist WIP in Form von offenen Tickets, Pull Requests u.ä. zu beobachten. Am Silvestertag hätte ich ahnen können, dass es ein Problem geben könnte: als ich draußen ankam, gabe es keine EDEKA-Einkaufswagen mehr, ich habe dann einen Einkaufswagen von Aldi genommen.

Ständiges Vordrängeln und unzuverlässige Termin-Zusagen. Vordrängeln konnte ich beim Silvestereinkauf nicht beobachten, alle haben sich gesittet hinten angestellt. Die überlastete Projektorganisation hat lange Durchlaufzeiten. Daher wird oft “Druck gemacht”, um einzelne Aufgaben an den Warteschlangen vorbei abzuarbeiten. (Diese ungeplante “Expressbearbeitung” senkt auch noch den Durchsatz, wenn etwas anderes unterbrochen werden muss.) Ständiges Vordrängeln und unzuverlässige Termin-Zusagen verstärken sich gegenseitig: Je mehr vorgedrängelt wird, desto unzuverlässiger werden die Vorhersagen, was wiederum die Motivation zum Vordrängeln erhöht. Von außen wird dieses Symptom als schlechte Termintreue wahrgenommen.

Empfehlung: Warteschlangen im Auge behalten. Wahrscheinlich wird eine chronische Überlastung durch Symptome wie lange Durchlaufzeiten (“In der IT dauert es immer ewig, bis wir etwas bekommen”) oder schlechte Termintreue verbunden mit Vordrängeln (“In der IT ist man immer der Getriebene”) auffallen. Dann kann man sich die anderen Symptome ansehen. Für die anschließende Therapie und das laufende Projekt- bzw. Portfoliomanagement lautet die Emfehlung: Die Warteschlangen sichtbar machen und ihre Länge im Auge behalten, z.B. mit einem Kanban-System. So können Sie Überlastungssituationen frühzeitig erkennen und rechtzeitig reagieren. Außerdem bilden sich lange Schlangen vor Engpässen; Sie sehen also auch, wo man ansetzen muss, um den Durchsatz zu erhöhen.

Matthias Berth

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