[SL] Die Projektorganisation ist überlastet, na und?

Gestern habe ich beschrieben, woran man eine überlastete Projektorganisation erkennt. Kurzfassung: Auslastung ist definiert als

Auslastung = Ankunftsrate / Abarbeitungsrate

Überlastung heißt, dass die Auslastung mehr als 100% beträgt oder kurz gesagt: die Arbeit kommt schneller rein, als wir sie abarbeiten können. Die Symptome sind z.B. lange Durchlaufzeiten, schlechte Termintreue und lange (wachsende) Warteschlangen.

Ich habe etliche Projektorganisationen gesehen, bei denen das so war und der Zustand nicht als “Überlastung” gedeutet wurde. Ist ja auch uncool, das Wort Überlastung hat so einen Beigeschmack von Jammern und seinen Aufgaben nicht gewachsen sein. Außerdem gibt es auch immer gute Gründe, warum es gerade jetzt so schwierig ist: wir haben auf eine neue Technologie umgestellt, neue Aufgaben bekommen, das Team ist gewachsen usw. usw. Also heißt es: Nicht jammern, Zähne zusammenbeißen, Überstunden machen und vor allem nicht sagen “Das schaffen wir nicht”.

Überlastung heißt nicht automatisch: nichts geht mehr. Nur selten ist es so schlimm, dass überhaupt nichts mehr geht. Man fährt zwar mit angezogener Handbremse und sehnt sich nach der guten alten Zeit zurück “Als wir hier noch richtig schnell was bewegen konnten.” Aber im Allgemeinen werden doch etliche Aufgaben mit heroischen Anstrengungen (und mehr Energieaufwand als eigentlich nötig) erledigt.

Im Grunde bedeutet chronische Überlastung aber, dass wir nicht mehr allen Anforderern die Erfüllung ihrer Wünsche versprechen können. Wenn im Ticketing-System noch unerledigte Arbeit für zwei Jahre steckt, dann haben einige Tickets keine Chance, jemals erledigt zu werden. Da hilft auch die beste Prioritätensteuerung nichts – wenn ein neues Ticket ein Versprechen bedeutet (“Lieber Kunde, danke für diesen Hinweis, wir kümmern uns darum”), dann werden wir etliche unserer Versprechen nicht einhalten können. Ehrlich (und nachhaltig) wäre, wenn alle verstehen, dass wir nicht alles erledigen.

Ganz analog funktioniert das auf der Ebene des Projektportfolios: Die ganz wichtigen Projekte bekommen Vorfahrt und werden mit aller Kraft durchgezogen. Das geht auf Kosten anderer Projekte, die irgendwann mal angefangen wurden und sich jetzt so dahinschleppen. Ob sie dann in aller Form beerdigt werden, oder als Zombies noch ein paar Quartale mitlaufen – es wird jemand enttäuscht sein, und der bisher getriebene Aufwand war für die Katz’.

Es genügt eine lokale Überlastung. Es reicht ein überlasteter Flaschenhals, um das Gesamtsystem in die Knie zu zwingen. Beim Silvestereinkauf im Supermarkt waren das die Kassen. Am Gemüseregal direkt hinter dem Eingang war es zwar etwas voll, aber ich musste nicht wirklich warten. Die Ressource “Gemüseabteilung” hatte also genug Reservekapazität. Auch liefen etliche Mitarbeiter rum, die (wie immer) die Regale nachfüllten.

Der Durchsatz des Systems wird durch den Flaschenhals (in seltenen Fällen auch mehrere Flaschenhälse) begrenzt. Das ist das große Thema bei unserer Buchempfehlung “Das Ziel” von Eli Goldratt. Mehr Leute zum Regale einräumen hätten das Problem im Supermarkt nicht gelöst. Aber wenn sich wie durch Zauberhand weitere Kassen materialisiert hätten, dann wäre die Kapazität am Flaschenhals Kassenzone gestiegen. Man hätte auch den Durchsatz der einzelnen Kassen erhöhen können, indem z.B. ein Mitarbeiter die Waren über den Scanner zieht, während ein anderer das Geld entgegennimmt (Das braucht wahrscheinlich technische Änderungen an den Kassen).

Manchmal kann also ein verhältnismäßig kleiner Eingriff die Überlastung lösen, wenn es gelingt, die Abarbeitungsrate am Flaschenhals zu erhöhen. Statt “Die Projektorganisation ist überlastet” muss es dann vielleicht konkret heißen: “Wir brauchen zu lange, um alle Regressionstests abzuarbeiten” und “Lasst uns den Zeitaufwand dafür durch Automatisierung um 50% senken”.

Überlastet oder nahezu voll ausgelastet, das ist kein wesentlicher Unterschied, denn die beobachteten Effekte sind dieselben. Je näher man der Vollauslastung kommt, umso länger werden die Warteschlangen, Wartezeiten usw. Denken Sie z.B. an das Beispiel vom Ausnahmezustand bei der Berliner Feuerwehr, da wird schon bei 80% Auslastung der Fahrzeuge reagiert, weil die Auswirkungen sonst gravierend werden.

Überlastung heißt nicht automatisch: Wir brauchen mehr Leute. Mehr Leute einzusetzen ist nur eine Möglichkeit, um die Abarbeitungsrate zu steigern. Für diese Maßnahme braucht man auch noch Zeit (Einarbeitungszeit), und sie verursacht laufende Kosten.

Es gibt etliche weitere und meist effektivere Hebel:

Matthias Berth

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