[SL] Warum wartet das Taxi?

“Den een sin Uul is den annern sin Nachtigall” (Des einen Eule ist des anderen Nachtigall) sagt man auf plattdeutsch, wenn zwei Menschen dieselbe Sache ganz verschieden ansehen. Blauschimmelkäse ist so ein Fall; es gibt ja Leute, die den ganz köstlich finden.

Daran musste ich denken, als ich neulich ein Taxi bestellt habe: Wenn ich die Treppe runterkomme und der Taxifahrer schon da steht, dann ist das schön für mich. Schlecht für ihn, weil er die Wartezeit nicht bezahlt bekommt. Es gibt nur “zu früh” oder “zu spät”, es genau auf den Punkt hin zu bekommen, ist für ihn fast unmöglich. Wenn wir seine Wartezeit partout vermeiden wollten, müsste ich mich schon vor der verabredeten Zeit unten an der Straße einfinden. Es ist leider so: Entweder wartet der Taxifahrer auf mich, oder ich warte auf ihn. Weil ich der Kunde (der Geld-Geber) bin, wartet meist der Taxifahrer auf mich.

Im Lean Thinking fragt man: soll eher das Werkstück (die Projektaufgabe) darauf warten, dass es bearbeitet wird? Oder soll eher die Maschine (der Entwickler) auf eine neue Aufgabe warten? Die Antwort ist deutlich: Warten sollte möglichst vermieden werden, aber im Zweifel ist es besser, dass die Maschine (bzw. der Entwickler) mal nicht ganz ausgelastet ist, wenn dafür das Werkstück (die Projektaufgabe) nicht allzu lange warten muss. Kurze Durchlaufzeiten sind hier wesentlich wichtiger als hohe Auslastung. So sieht es auch der Taxifahrer: Hauptsache, der Kunde muss nicht warten, dafür kann man auch etwas Leerlauf hinnehmen.

“Unbeschäftigte” Ressourcen widerstreben dem klassischen (BWLer-) Denken, das ich mal als “Auslastungsdenken” bezeichnen will. Im Auslastungsdenken ist die Auslastung einer Ressource das Wichtigste. Schließlich haben wir eine teure Maschine angeschafft, die darf nicht stillstehen, sondern muss damit beschäftigt werden, Teile herzustellen. Oder im Projektgeschäft: Wir bezahlen Gehälter, also sollen die Leute auch “produktiv sein”, d.h. möglichst 100% ihrer Arbeitszeit im Kundenauftrag beschäftigt sein. Hier wartet also meist die Aufgaben auf ihre Bearbeitung, weil die Leute ja schon anderweitig ausgelastet sind.

Beides kann man leider nicht haben: eine hohe Auslastung geht nur auf Kosten der Durchlaufzeit. Denn wer sicher sein will, dass eine Ressource immer ausgelastet ist, muss vor dieser Ressource eine Warteschlange als Puffer aufbauen – das erhöht dann die Durchlaufzeit. Wer hingegen möglichst kurze Durchlaufzeiten erreichen will, braucht eher kurze bzw. keine Warteschlangen. Damit nimmt er aber auch in Kauf, dass die Warteschlange gelegentlich leerläuft und die Ressource unbeschäftigt “herumsteht”.

Matthias Berth

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