Wenn man immer nur Anforderungsdokumente sieht und die echten “Endanwender” nur vertreten werden, verliert man leicht den Blick auf die Realität da draußen. Da hilft es sehr, sich direkt vor Ort ein Bild zu machen.
Ich war mal CTO einer Bioinformatik-Firma. Wir hatten einen Biologen als Mitgründer, dadurch hatten wir natürlich ganz viel fachliches Know-How und die Perspektive auf die Forschungslandschaft. Er hat gewissermaßen als Vertreter und Anwalt unserer Nutzer fungiert.
Trotzdem bekommt man ein viel differenzierteres Bild von seinen Kunden, wenn man sie mal direkt bei ihrer Arbeit erleben kann. Ich habe zum Bespiel einen promovierten Biologen dabei beobachtet, wie er in einer Excel-Tabelle per Hand Punkte durch Kommas ersetzte. Es waren über hundert Zeilen, das störte ihn überhaupt nicht. Wieder was dazugelernt: ich selbst könnte es nicht ausstehen, dieselbe Operation auch nur dreimal hintereinander zu machen. Biologen sind da wesentlich frustrationstoleranter. Sie machen in ihrem Arbeitsalltag zum Beispiel 96 Mal dieselben Bewegungen mit einer Pipette, um eine Mikrotiterplatte mit Proben zu befüllen. Wer das gewöhnt ist, hat nichts dagegen, mit der Maus wiederholt irgendwo zu klicken. Wenn es insgesamt 5 Minuten dauert, ist es kein Problem. Wir als Softwareentwickler hätten sofort nach einer Möglichkeit gesucht, das zu automatisieren. (Die meisten Biologen haben natürlich schon mal “Suchen und Ersetzen” in Excel benutzt.)
Für unsere Software hieß das: wir müssen nicht um jeden Preis alle Arbeitsschritte rationalisieren, die gelegentlich monoton sein könnten. Es ist natürlich gut, wenn man reibungslos und schnell arbeiten kann, aber manchmal gewinnt ein anderer Gesichtspunkt bei der Priorisierung von Features. Unseren Kunden war es zum Beispiel sehr wichtig, zu möglichst spektakulären Abbildungen für ihre Präsentationen und Publikationen zu kommen.
Solche kleinen (und großen) Aha-Erlebnisse helfen dabei, unsere Kunden wirklich zu verstehen. Sie sind eben keine Personas, keine abstrakten “User” und schon gar nicht so gestrickt wie Softwareentwickler.
Matthias Berth