Als ich jemandem dabei zugesehen habe, wie er in einer Excel-Tabelle per Hand Punkte durch Kommas ersetzte, wurde, wenn Sie so wollen, mein mentales Modell von unseren Anwendern zurechtgerückt. Ich habe noch viele andere nützliche Dinge durch direkte Beobachtung gelernt, zum Teil vor Ort, zum Teil durch Arbeit im Support.
Das technische Wissen war sehr ungleich verteilt, während Einige sehr smart mit ihren PCs umgehen konnten, gab es Andere, die auf die Frage “Welches Betriebssystem haben Sie?” etwas unsicher antworteten: “Word?”. Ein Kollege von mir rief mal in voller Frustration aus: “Die sollen alle erstmal einen PC-Führerschein machen!” Das ist natürlich keine Lösung, man muss eben das ganze Spektrum abdecken – angefangen bei denen, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen Dateien auf der Festplatte wiederzufinden. (Interessanterweise gibt es dieses Problem bei Web-Applikationen nicht mehr).
Einige mussten in sehr beengten Verhältnissen arbeiten, es war kaum Platz für Tastatur und Maus auf dem Schreibtisch, außerdem gab es recht viele Leute in einem Büro und häufige Störungen durch Telefonanrufe. Dass man unter solchen Umständen nicht immer alles liest, was auf dem Bildschirm steht, ist eigentlich klar. Eine Software muss sich also auch mit nur 60%iger Aufmerksamkeit bedienen lassen.
Apropos Bedienbarkeit: Da sieht man Sachen! Überraschende Stolpersteine und viele Kleinigkeiten, die den Benutzern das Arbeiten unnötig erschweren. Bis so etwas in ein Ticket geschrieben wird, muss es schon viel Frustration ausgelöst haben. Man sieht auch, was sie alles nicht benutzen, weil sie es nicht kennen oder weil es wirklich unnötig ist.
Wir sind immer mit vielen Notizen nach Hause gegangen, es gibt überall Verbesserungspotenzial. In einem Projekt mussten zum Beispiel Daten von Papierformularen in die Web-Applikation übertragen werden. Die Sachbearbeiter benutzten zwei Bildschirme nebeneinander. Wenn man diese Bildschirme senkrecht stellen und die Formatierung etwas anpassen würde, würde das ganze Web-Formular darauf passen. Das wäre dann einfach parallel zum Papierformular, ohne scrollen zu müssen. Die Firma hätte auch offensichtlich eine Knowledge Base gut gebrauchen können. Statt dessen gab es eine Facebook-Gruppe, auf der von Fall zu Fall Fragen beantwortet wurden. Das Wissen verschwand dann in der Historie der Facebook-Gruppe, und wenn gerade niemand auf die Frage reagierte, gab es eben keine Antwort.
Ich empfehle, zu solchen Ausflügen auch Entwickler und Projektmanager mitzunehmen, wenn es irgend möglich ist. Sie arbeiten in dieser Zeit vielleicht nicht “am Projekt”, aber die Zeit wird vielfach wieder eingespielt durch die bessere Zusammenarbeit und das verbesserte mentale Modell, das sie von ihrer Zielgruppe gewinnen. Außerdem kann man einiges, was man da sieht, manchmal zu Hause kaum beschreiben.
Matthias Berth