[SL] 'Vague, but exciting ...' - was man vom Erfolg des WorldWideWeb lernen kann

Vague but exciting …” hatte der Chef des Web-Erfinders Tim Berners-Lee an den Rand des Projektvorschlags geschrieben. Das Web wird in dieser Woche 30 Jahre alt, ich nehme das als Anlass, über ein paar Muster zu schreiben, die man hier und in anderen erfolgreichen Projekten finden kann. Es ist mir bewusst, dass es im Rückblick immer leicht ist, über “Erfolgs-Faktoren” zu reden. Das hier ist also kein Kochrezept für erfolgreiche Technologieentwicklung, vielleicht nur ein Denkanstoß zum Freitag…

Bekannte Komponenten neu zusammensetzen. Es musste so gut wie nichts neu erfunden werden. Das Konzept Hypertext (bzw. Hypermedia) war schon seit Jahrzehnten bekannt, ab Mitte der achtziger Jahre wurde es immer breiter diskutiert. Das Programm HyperCard auf dem Macintosh ermöglichte seit 1987 jedermann, Hypertexte und Hypermedia-Anwendungen zu erstellen. Die eigentliche Datenübertragung konnte über etablierte Internet-Protokolle realisiert werden. Und schließlich: Das Datenformat für Web-Seiten (HTML) basierte auf SGML, einer Entwicklung aus den 1970er Jahren.

Begrenzte Ambitionen. Der erste Vorschlag verlangt nur minimale Ressourcen:

I imagine that two people for 6 to 12 months would be sufficient for this phase of the project.

Berners-Lee geht davon aus, dass man vorhandene Angebote der Industrie sichten und bewerten sollte, um so wenig wie möglich in Eigenentwicklung zu machen. Bei der Frage “Make or Buy” wird also “Buy” bevorzugt. Es war insbesondere kein Großprojekt zur Schaffung eines weltumspannenden Wissens-Netzwerkes mit jahrelanger Laufzeit und hunderten zentral koordinierten Beteiligten geplant.

Vergleiche das Hypertext-Projekt Xanadu, das vom Visionär Ted Nelson im Jahre 1960 gestartet wurde. Wikipedia schreibt:

Xanadu scheiterte an seiner Komplexität. Das System wurde nie fertiggestellt; bis heute existieren nur Prototypen. Alle heute verbreiteten Umsetzungen des Hypertext-Konzepts sind funktionale Teilmengen von Nelsons Xanadu.

In Xanadu sollte es alles geben, was ein ideales Hypertext-System braucht, z.B. bidirektionale Hyperlinks und eine Bezahlfunktion (micropayment), über die Autoren gleich vergütet werden. Jedes dieser (sehr wertvollen) Features zog komplexe Probleme nach sich, was die Fertigstellung immer weiter verzögerte. Eine Darstellung der faszinierenden Geschichte gab es 1995 in Wired, mit anschließender Kontroverse.

Im Vergleich zur Vision von Xanadu war das Web lächerlich einfach, sogar die Editier-Funktion ging relativ schnell wieder verloren.

Minimale Abhängigkeiten. Die Aufteilung in Client (Web-Browser), Server und Protokoll (HTTP) ermöglichte es, die Teile unabhängig voneinander weiterzuentwickeln.

Auch war es in den 80ern allgemeiner Konsens in der Forschungsgemeinschaft, dass Hyperlinks bidirektional sein müssen. Das Web verzichtete darauf, hier kann ein Link also in’s Leere zeigen (Page not Found). Damit entfällt ein großer Berg an Komplexität, weil ein Server nicht mehr alle Seiten kennen muss, die auf ihn verweisen.

Existierende Systeme einbinden statt sie zu ersetzen. In der Frühzeit wurden andere bestehende Informationsangebote nahtlos eingebunden, so konnte sich das Web an existierende Angebote dranhängen (FTP für file transfer, Gopher für Bibliotheks-Kataloge, WAIS für Dokumente). Man brauchte als Nutzer nur noch ein Programm, den Web-Browser, um auf alle diese Inhalte zuzugreifen. Das kompensierte auch den anfänglichen Mangel an Inhalten (Web-Seiten). Ein paar Jahre später waren die alten Angebote aus eigenem Antrieb auf das neue, bessere WWW-System migriert.

Niedrige Einstiegsbarriere. Um mit dem System zu experimentieren, reichte ein Texteditor und ein Web-Browser. Generationen von Web-Designern und -Entwicklern haben gelernt, indem sie sich den Quelltext einer Webseite per Menüpunkt “View Source” angesehen haben.

Das eigene Problem lösen. Berners-Lee war als Physiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN sehr vertraut mit den Problemen des Zugriffs auf Informationen. Er schreibt:

The problems of information loss may be particularly acute at CERN, but in this case (as in certain others), CERN is a model in miniature of the rest of world in a few years time. CERN meets now some problems which the rest of the world will have to face soon.

Ein großer Vorteil war auch, dass er auch genug Programmierkenntnisse besaß, um seine Lösung zu implementieren. Das ist besonders in der Anfangszeit wichtig, wenn nur wenige Ressourcen gibt. Das funktionierende Demo ist dann wesentlich überzeugender als ein Vorschlag auf Papier und hilft dabei, weitere Ressourcen zu bekommen.

Kein Projektfilter. Nach dem Kommentar “Vague, but exciting …” passierte erstmal nichts. Es wurde auch lange kein CERN-Projekt gestartet. Aber Berners-Lee konnte auch ohne ein formales Projekt ab 1990 am ersten Web-Browser arbeiten.

Matthias Berth

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