Ich finde ja Großprojekte faszinierend. Die erfolgreichen, die gescheiterten–und natürlich auch die, bei denen der Ausgang noch offen ist. Der Großflughafen Berlin-Brandenburg (BER) ist ein Paradebeispiel für Terminverschiebungen, Skandale und Pannen. Als kompletter Laie im Bauwesen sehe ich mir das interessiert an (und bin insgeheim froh, nicht involviert zu sein).
Die Potsdamer Neuesten Nachrichten schrieben am 5.3.2019 unter der Überschrift “3000 Mängel bringen Zeitplan durcheinander”:
Nach PNN-Recherchen kommt die Beseitigung der aktuell rund 3000 Mängel immer noch zu langsam voran, besonders bei den Kabeln, um im Sommer tatsächlich mit den Wirk- und Prinzip-Prüfungen beginnen und diese in sechs Wochen bis Oktober beenden zu können. Spätestens dann will (und muss) Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup bei den Behörden die Baufertigstellungsanzeige abgeben, wenn der Start zwölf Monate später klappen soll.
Ein Highlight aus der Flughafen-Saga:
Im Mai 2012, nur vier Wochen vor dem geplanten Termin teilt der Aufsichtsratschef mit, dass die Eröffnung erneut verschoben wird. Grund sind vor allem Probleme mit der Brandschutzanlage.
So kurz vorher den Termin abzusagen ist nicht nur peinlich, sondern auch teuer. Im langen Wikipedia-Artikel liest man auch:
Die Eröffnungsfeierlichkeiten, die am 24. Mai 2012 mit 40.000 geladenen Gästen (Kosten: rund zwei Millionen Euro) stattfinden sollten, wurden am 8. Mai 2012 abgesagt.
Im Laufe des Jahres wurden Verzögerungen von insgesamt 17 Monaten verkündet, bis im Januar 2013 ein neuer Aufsichtsratsschef gewählt wurde. Der kassierte auch die letzte Prognose, nun galt: Eröffnungstermin unbekannt. Erst Ende 2014 wagte man wieder, einen Eröffnungstermin zu nennen: “zwischen Juni und September 2017”.
So geht die Geschichte weiter, gerade heute wurde nach einer Aufsichtsratssitzung der aktuelle Termin “Oktober 2020” noch einmal bekräftigt.
Kann man in diesen Verzögerungen und der Ankündigungs-Politik ein Muster erkennen? Ja, es gibt sogar ein Chart dafür. Das “Slip Chart” zeigt, wie ein Fertigstellungstermin immer weiter in die Zukunft rutscht. Man findet es in Gerald (Jerry) Weinbergs Buch “How to Observe Software Systems”. Das Slip Chart ist ganz einfach zu erstellen, man trägt dazu einfach den Zeitpunkt der Ankündigung und den angekündigten Termin gegeneinander auf.
Hier ist ein Projekt, nennen wir es “Project Alpha”, dessen Fertigstellung im Laufe der Zeit von Tag 800 auf Tag 1000 “wegrutscht”:
Die blaue Linie zeigt, wie am Tag 1 der geplante Termin (an Tag 800) bekanntgegeben wird. Auf halbem Wege (ungefähr bei Tag 400) verschiebt sich der Termin um ca. 100 Tage nach hinten. Eine zweite Terminverschiebung gibt es bei Tag 665, und schließlich ein letztes Mal am Tag 908, wo wir den endgültigen Fertigstellungstermin (Tag 1000) verkünden. Die schwarze Linie (Baseline) ist einfach die Diagonale im Diagramm. Wo sich die blaue und die schwarze Linie treffen, ist das Projekt fertig.
Im Project Alpha gibt es zwar eine Überschreitung des Zeitplans von 25% (800 -> 1000 Tage), aber immerhin wird die Verschiebung frühzeitig angekündigt. Außerdem werden die Terminverschiebungen kleiner, je näher die Fertigstellung rückt.
Die Geschichte des Projekts “Flughafen BER” ist komplexer, daher zeige ich heute nur Teil 1, bis zum vorläufig letzten verkündeten Termin am 7.9.2012 (“Fertigstellung bis 27.10.2013”, zum Beginn des Winterflugplans).
Ich setze einen blauen Punkt jedesmal, wenn ein Fertigstellungstermin verkündet oder öffentlich bestätigt wurde (“Wir liegen im Plan”).
Anfangs ist jahrelang “Alles im Plan”. Dann gibt es eine Verschiebung um 6 Monate, die mit reichlich Vorwarnzeit angekündigt wird. Bedenklich: die Linie läuft damit parallel zur Baseline.
Dann wird der neue Termin zweimal bestätigt, dazu passt der Prüfbericht, der im Oktober 2011 im Aufsichtsrat diskutiert wurde. Wieder ist “Alles im Plan”, die blaue Linie verläuft waagerecht.
Nun kommt die zweite Verschiebung (“Brandschutzprobleme”), in kurzen Abständen kommen weitere hinzu. Die blaue Linie bewegt sich mit hohem Tempo weg von der Baseline. Wenn das so weitergeht, wird das Projekt nie fertig.
Es wäre natürlich Kaffeesatzleserei, wenn man aus diesem Chart eine bessere Prognose für den Fertigstellungstermin ableiten wollte. Weinberg zeigt aber, dass man aus Slip Charts auf die Kultur und die Vorhersagefähigkeit einer Organisation schließen kann. Nun haben wir für BER nur ein Chart, ich will es trotzdem etwas interpretieren und dabei spekulieren, wie es aus Sicht der Beteiligten war.
Die erste Phase (bis zum 8.5.2012) sieht für mich aus wie “Wir müssen den Termin halten um jeden Preis. Ihr habt es einmal verschoben, jetzt muss es aber klappen. Die Ampeln stehen doch auf Grün oder Gelb, wenn sich jetzt alle ordentlich anstrengen, ist das zu schaffen!”.
Die Probleme werden so lange verdrängt oder uminterpretiert, bis es kurz vor Toresschluss zum Offenbarungseid kommt: Der Termin in vier Wochen ist beim besten Willen nicht zu halten, Verschiebung um vier Monate. Bei der Suche nach Ursachen und Schuldigen werden “unerwartet” neue Mißstände sichtbar. Wahrscheinlich kommt noch ein Teilprojekt-Domino dazu: Brandschutz ist als Hauptursache identifiziert, jetzt können andere Teilprojekte ihre Probleme gestehen (Schallschutz wird genannt). Weitere Verschiebungen sind nötig, bis wieder genug Abstand zur Baseline gewonnen ist, so dass der jeweils genannte Termin einigermaßen realistisch scheint.
Ein Wust von Schadenersatzklagen, Skandalen und Personalwechseln bestimmt das restliche Jahr 2012. Im Januar 2013 werden keine Prognosen zur Fertigstellung mehr abgegeben. Ende Februar 2013 ist die Bestandsaufnahme der bestehenden Mängel noch nicht abgeschlossen. Das Projekt ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Besser gesagt: jetzt wird öffentlich sichtbar, dass das Projekt aus dem Ruder gelaufen ist.
Es bleibt spannend.
Matthias Berth