Kennen Sie Leute, die täglich mit “Enterprise-Software” (z.B. ERP-Systemen) arbeiten müssen? Sind die glücklich mit der Software?
Wenn ich etwas von Endanwendern darüber höre, höre ich nur Klagen: Über einfachste Dinge, die von der Software verkompliziert werden, oder obskure Felder, die man zwingend ausfüllen muss, bevor man zum nächsten Bildschirm wechseln darf. Da muss man dieselben Eingaben mehrfach machen, es gibt auch kein Copy und Paste. Schwerwiegende Fehler, die lange bekannt sind, werden monatelang nicht behoben; natürlich kann auch niemand sagen, ob überhaupt noch Hoffnung besteht.
Das Frustrierende daran ist, dass die Anwender keine Möglichkeit haben, an ihrer Situation etwas zu ändern. Sie müssen mit dem System leben und dürfen höchstens warten, bis von irgendeiner zentralen Instanz mal ein Update kommt (was meist neue Probleme bringt).
Eine Studie aus dem Jahre 2016 hat die Nutzung von elektronischen Patientenakten an amerikanischen Krankenhäusern untersucht. Die Ärztinnen und Ärzte empfanden die Krankenhaussoftware oft keineswegs als Erleichterung, sondern als zusätzliche Bürde. Zu oft hindert das System sie an dem, was sie eigentlich tun wollen: Patienten helfen. Für jede Stunde, die sie direkt für Patienten aufwenden, verbringen die Ärzte durchschnittlich zwei Stunden(!) mit Computerarbeit. Als ein Team der Mayo Clinic die Häufigkeit von Burnout-Symptomen unter Ärzten untersuchte, fand man große Unterschiede zwischen den einzelnen Fachrichtungen. Neurochirurgen hatten zum Beispiel einen eher geringen Burnout-Score, obwohl sie ihre Work-Life-Balance als ziemlich schlecht einschätzten. Das stellte die Forscher vor ein Rätsel, bis sie einen interessanten Zusammenhang fanden: Einer der stärksten Einflussfaktoren für Burnout-Symptome ist die Zeitdauer, die am Bildschirm mit medizinischer Dokumentation verbracht wird. (Dies und mehr zur Auswirkung der Digitalisierung in der Medizin findet man im sehr lesenswerten Artikel von Atul Gawande: “Why Doctors Hate Their Computers”, The New Yorker, 5 Nov 2018.)
Wie können wir vermeiden, das unsere Systeme ihre Anwender derart frustrierten?
Kaizen (die kontinuierliche Verbesserung) bietet eine sinnvolle Herangehensweise: Statt im ersten großen Wurf alles richtig zu machen, unterstützt man Veränderungen in vielen kleinen Schritten, die
Wir sollten uns also fragen: Wie schaffen wir es, dass unsere IT-Systeme kontinuierlich verbessert werden können?
Wenn wir das erreichen, können unsere IT-Systeme auch die kontinuierliche Verbesserung in den Arbeitsabläufen der Anwender unterstützen, statt bestehende Prozesse zu zementieren. Und damit öffnet das scheinbar einfache Kaizen Potenziale, die weit über das bloße Beheben von kleinen Alltagsproblemen hinausgehen.
Ich will diese Vision der kontinuierlichen Verbesserung noch etwas abgrenzen vom üblichen Vorgehen im Projektgeschäft.
Feedback von Endanwendern ist ja nichts Neues, und in der agilen Vorgehensweise bindet man sie frühzeitig ein (in Scrum ist das die Rolle Product Owner). Nur gibt es allzu oft nach Ende des Projekts nur noch ein Budget für “Wartung”, um die schwerwiegendsten Fehler zu beheben und auf externe Änderungen (neue gesetzliche Vorgaben zum Beispiel) zu reagieren. Was die Endanwender im täglichen Umgang mit dem System dazulernen, kommt dann eventuell noch auf eine große Liste mit Wünschen für die nächste Version. Schnelle Umsetzung in kleinen Schritten sieht anders aus.
Auch Produkthersteller entwickeln ihre Softwareprodukte ständig weiter, aber sie können immer nur die aggregierten Wünsche ihrer Anwender berücksichtigen. Nur wenn sich genügend Interesse formiert, gibt es eine Änderung, sonst werde ich mit meinem speziellen Problem allein gelassen.
Bei den kontinuierlich weiterentwickelten Internet-Services wie Google, Twitter oder LinkedIn gibt es immerhin APIs, die einen kontrollierten Zugriff auf Daten und Funktionen erlauben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, immerhin kann sich so ein hinreichend motivierter Programmierer eine Spezialversion zusammenbauen.
Wenn ich Beispiele für “kontinuierliche Verbesserbarkeit” in Software nennen sollte, fallen mit einige ein:
Solche einfachen aber sehr agilen “hausgemachten” Systeme lassen herkömmliche Enterprise-IT in mancher Hinsicht alt aussehen. Vor allem, wenn es darum geht, Prozesse zu unterstützen, die sich schon nächste Woche weiterentwickelt haben können und vielleicht in drei Jahren kaum noch wiederzuerkennen sind.
Matthias Berth