Wie kann man den Erfolg eines Software-Projekts messen? Dabei meine ich nicht die “Inputs” (im Budget geblieben, Zeitrahmen eingehalten, alle 592 Features implementiert) sondern anhand das Projekt-Ergebnis (“Output” - das was hinten rauskommt). Wenn man mit Auftraggebern spricht, ist es manchmal gar nicht so einfach, eine quantitative Definition für den Projekterfolg zu bekommen. Alle sind sich einig, dass der Erfolg im “Kundennutzen” besteht, nur wir der leider häufig eher vage beschrieben als “Effizientere Prozesse”, “Planungsqualität erhöhen”, “Kundenbeziehung intensivieren” usw. Diesen Nutzen zu quantifizieren macht Arbeit, lohnt sich aber – spätestens, wenn klar wird, dass nicht alle wünschenswerten Features umgesetzt werden können.
Das will ich heute am Beispiel der Corona-Warn-App etwas vertiefen. Der Nutzen besteht hauptsächlich in geretteten Leben, vermiedenen Kosten für das Gesundheitssystem und vermiedenen Kosten für die gesamte Wirtschaft. Das alles quantitativ zu fassen, dürfte sehr schwer sein, ganz zu schweigen von der Frage “Wieviele Euros ist ein gerettetes Leben wert?”
Wir können das Problem vereinfachen, indem wir sagen:
These: Der Nutzen der Corona-Warn-App wächst proportional zur Anzahl der vermiedenen Infektionen
Die Anzahl vermiedener Infektionen ist eine Proxy-Variable, also eine Ersatz-Messgröße, die leichter zugänglich ist, als die eigentlich interessierenden Größen (gerettete Leben, vermiedene Kosten). An solchen Vereinfachungen kann man immer Kritik üben. Zum Beispiel würden die wirtschaftlichen Kosten überproportional anwachsen, wenn die Fallzahl eine gewisse Schwelle übersteigt und wieder ein landesweiter Lockdown angeordnet wird.
Infektionen werden durch die App vermieden, wenn
Das ist die “Customer Journey” von A und B, die zum Erfolg der App beiträgt.
Auch die Anzahl der vermiedenen Infektionen kann man nicht präzise erfassen, wir gehen noch einen Schritt weiter in der Vereinfachung:
These: Der Nutzen der Corona-Warn-App wächst proportional zur Anzahl der erkannten Risiko-Begegnungen
Wie können wir das positiv beeinflussen?
Vieles in dieser Liste mag etwas trivial klingen, trotzdem ist es nützlich, sich das klar zu machen. Denn später hängen Entscheidungen in der Produktentwicklung an diesen Argumenten: “Wir können Feature X oder Feature Y als nächstes implementieren. Welches hat den größeren Kundenutzen?”
Auf Punkt “beide haben die App installiert” will ich noch etwas detaillierter eingehen. Wenn 10% der Bevölkerung die App installiert haben, welcher Prozentsatz an Risiko-Begegnungen wird dann erfasst? Wir wollen vereinfachend annehmen, dass die beiden Teilnehmer zufällig aus der Bevölkerung ausgewählt werden. Jede Person hat die App mit Wahrscheinlichkeit 0,1 (10%). Die Wahrscheinlichkeit, dass sie beide die App installiert haben, ist dann das Produkt der beiden Wahrscheinlichkeiten
0,1 * 0,1 = 0,01 = 1%
Es werden also bei 10% “Marktdurchdringung” leider nur 1% der Risiko-Begegnungen erfasst. Wenn die App ganz extrem erfolgreich wird, sind es vielleicht 90% der Bevölkerung, die teilnehmen. Dann haben wir
0,9 * 0,9 = 0,81 = 81%
also würden 81% der Risiko-Begegnungen erfasst. Weil immer beide Teilnehmer einer Begegnung die App installiert haben müssen, multiplizieren sich die Wahrscheinlichkeiten, es gilt also
Der Nutzen der Corona-Warn-App wächst quadratisch mit der Anzahl der Teilnehmer
Hier ist das nochmal grafisch dargestellt:
Sie sehen: die ersten Millionen Nutzer bringen noch nicht allzu viel. Derzeit (Stand 9.7.2020) sind wir bei 15,4 Mio Installationen, das entspricht nur 3,4% der Risiko-Begegnungen.
Das quadratische Wachstum des Nutzens ist auch bekannt als Netzwerk-Effekt (Metcalfe’s Law), aufgestellt von Robert Metcalfe, dem Haupt-Erfinder des Ethernets.
Metcalfe hatte ein Problem, als seine Firma 3Com versuchte, die ersten Computernetzwerke für PCs an den Mann zu bringen: der Nutzen ist relativ gering, solange nur wenige PCs angeschlossen sind, wächst aber mit wachsender Durchdringung überproportional an. Also überzeugte er seine Kunden, mehr Netzwerk-Equipment anzuschaffen, damit sie die kritische Masse vernetzter PCs innerhalb eines Unternehmens überschreiten. Damals (anfang der Achtziger Jahre) kosteten Ethernet-Karten noch $1000 pro Stück. Heute sind wir bei einer Durchdringung von nahezu 100%, und Metcalfe hat recht behalten.
Ähnliche Wachstumskurven für den Kundennutzen (network effects) gibt es in vielen Bereichen
Anzahl Angebote * Anzahl Nachfragen
.Bei der Corona-Warn-App ist die Anzahl der Installationen der größte Hebel für den Gesamt-Erfolg. Leider ist diese Anzahl noch viel zu gering, um einen signifikanten Effekt zu erzielen. Wenn man die Installationszahlen im Zeitverlauf umrechnet auf den Anteil erkennbarer Risiko-Begegnungen, ergibt sich dieses Bild:
Eine höhe “Marktdurchdringung” kann man natürlich mit technischen Maßnahmen befördern, etwa:
Man sollte sicher an diesen Themen weiterarbeiten,
denn schon eine 10% höhere Installationszahl bringt ja 21% Zuwachs an erkennbaren Risiko-Begegnungen
(quadratischer Zuwachs, 1,1 * 1,1 = 1,21
).
Ich bezweifle aber, dass solche Maßnahmen das Gesamtbild signifikant ändern werden. Was wir brauchen ist eine Vervielfachung der Anzahl Installationen, also etwa Verdreifachung auf 45 Mio, für den neunfachen Effekt, d.h. 29% erkennbare Risiko-Begegnungen.
Was kann man tun? Die aktuell laufende Werbekampagne mit geschätzten 10-15 Mio Euro Kosten war sicher sinnvoll. Ich bin auf diesem Gebiet totaler Laie, kann also nur vermuten, dass der Effekt so einer Kampagne nach vier Wochen eher schwächer wird. Man muss also wohl nochmal fundamental etwas anders machen. Vielleicht über Anreize für die Installation nachdenken? Ein Gewinnspiel mit wöchentlicher Auslosung von 10000 Euro unter allen aktiven Installationen? Lässt sich dabei die Anonymität wahren? Oder Aufrufe der Kirchen, der Parteien und der Gewerkschaften? Die Top 10 der beliebtesten Promis für den guten Zweck einspannen? Eine Verpflichtung zur Installation ist ja politisch nicht durchsetzbar, genauso wenig wie jegliche “Diskriminierung” von Leuten, die die App nicht installiert haben.
Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass die Infektionszahlen wieder steigen und mit ihnen hoffentlich die Bereitschaft, die Corona-Warn-App auf dem eigenen Smartphone zu installieren.
Auch wenn wir den absoluten Nutzen der Corona-Warn-App nicht exakt quantitativ fassen können, zeigt die obige Diskussion doch, dass es sich lohnt, quantitativ über den Nutzen eines Projekts nachzudenken. Durch die relative Bewertung der Faktoren und die Einsicht, dass wir es in diesem Fall mit Netzwerk-Effekten zu tun haben, kommt man zu wesentlich besseren Entscheidungen als mit rein qualitativen Argumenten.
Matthias Berth