[SL] Wollen Sie die Überraschungen alle auf einmal?

So kann man die Vorteile der agilen Vorgehensweise auch ausdrücken:

Wollen Sie die Überraschungen alle auf einmal, oder eine nach der anderen, iterativ? Michael de la Maza auf Twitter

Wenn es um böse Überraschungen im Projekt geht, wollen wir am liebsten gar keine. Und die unvermeidlichen sollen bitteschön nach und nach kommen. Eine der peinlichsten Überraschungen ist sicher:

Wir haben alles richtig gemacht, aber der Endanwender will das Projektergebnis nicht haben.

So geschehen beim Großprojekt ROBASO (Rollenbasierte Oberflächen) der Arbeitsagentur. Auf einer einzigen IT-Plattform sollten 16 bestehende Anwendungen vereinigt werden, um die Bearbeitung ohne Doppeleingaben und Programmwechsel zu ermöglichen und insgesamt zu vereinfachen. Nach 5 Jahren Entwicklungszeit stellte man in einer Pilotphase 2015 fest, dass die MitarbeiterInnen die Software nicht einsetzen wollten bzw. konnten:

Im praktischen Einsatz im Kundengeschäft zeigte sich, dass die Software zu wenig flexibel war, um der Komplexität der Kundenanliegen gerecht zu werden. Pressemitteilung der BA vom 15.02.2017

In der Presse wurde z.B. kolportiert, dass die Korrektur einer Kontonummer nicht möglich sei, außer wenn man die gesamten Daten des Leistungsempfängers neu eingibt. Nachdem die Pilotphase gravierende Mängel aufgedeckt hatte, beauftragte die Arbeitsagentur noch ein externes Projektaudit, Ergebnis:

Die Defizite hätten nicht zeitnah und wirtschaftlich behoben werden können. Die BA hat sich deshalb entschlossen, das Projekt, in das seit dem Start 2010 insgesamt 60 Millionen Euro investiert wurden, zu beenden. Pressemitteilung der BA vom 15.02.2017

Soweit ich das von hier aus beurteilen kann, gab es im Projektverlauf schon gelegentliches “Feedback” von Anwendern. Nur ein echtes Release, und damit echtes Feedback, gab es zu spät.

Man hätte den Scope auch anders strukturieren können, um die möglichen Überraschungen besser zu verteilen. Statt 16 Anwendungen auf die eine Plattform zu bringen, kann man erstmal zwei miteinander verbinden. Diese beiden Anwendungen sollten nach den Gesichtpunkten “potenzielle Zeitersparnis für die Anwender” und “Entwicklungsaufwand” ausgewählt werden. Das wäre der Scope für Release 1.

Wenn das Release 1 im Produktivbetrieb läuft, kann man beurteilen (messen!), ob eine Zeitersparnis und Vereinfachung für die MitarbeiterInnen erreicht wurde. Wichtig dabei ist: es muss ein echtes Release sein, d.h. echte Transaktionen werden von echten Anwendern durchgeführt. Wahrscheinlich lernt man im Produktivbetrieb auch etwas dazu, was zu Anpassungen im Gesamtkonzept führt. Release 1 wird täglich eingesetzt, fängt also schon mal an, die Projektkosten zurückzuverdienen.

Dann kann man in die nächsten Runden gehen: Mit Release 2 wird eine weitere Anwendung angeschlossen, und so weiter, bis schließlich in Release 15 alle Anwendungen auf der gemeinsamen Plattform angekommen sind. Jedes Release gibt echtes Feedback zur Frage “Ist das Projektergebnis eine Verbesserung aus Sicht der Endanwender?”. Böse Überraschungen kommen dann ggf. früher, so dass man noch Zeit bzw. Budget hat, um gegenzusteuern.

Realistisches Feedback ist übrigens auch der Sinn des MVP (Minimum Viable Product) aus dem Lean Startup: Dort versucht man, ganz früh ein minimales Produkt zu verkaufen, um zu testen, ob Kunden so etwas überhaupt haben wollen. Wenn der potenzielle Kunde bezahlen soll, statt nur ein tolles Produkt-Konzept zu loben, kommt nämlich die Stunde der Wahrheit – echtes Geld gibt es nur für echten Nutzen.

Im Projektgeschäft fließt zwar das Geld für das Gesamtergebnis, realistisches Feedback kann man trotzdem bekommen: indem man den MitarbeiterInnen zumutet, Teilergebnisse des Projekts für ihre tägliche Arbeit einzusetzen. Das geht natürlich nur, wenn man den Scope entsprechend strukturiert.

Gutes Scope-Management heißt: Den Scope so strukturieren, dass möglichst früh möglichst realistisches Feedback eingeholt werden kann.


Wir sprechen am 23. Mai 2019 auf der SEACON (software engineering + architecture conference) in Hamburg über strategisches Scope-Management, mit Beispielen aus Handelsunternehmen. Für Abonnenten unseres Newsletters können wir einen Discount von 20% auf den Preis eines 2-Tages-Tickets anbieten, antworten Sie einfach auf diese Email.


Matthias Berth

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