Ich finde es spannend, wie oft schon wenige einfache Regeln ausreichen, um unvorhersehbares Verhalten zu produzieren. Die Spielregeln des internationalen Schachverbandes FIDE passen auf 11 Seiten, inklusive Titelblatt, Vorwort und Inhaltsverzeichnis. Das ist winzig im Vergleich zu gängigen Spezifikationsdokumenten für Software, reicht aber aus, um unerwartete Phänomene hervorzubringen. Etwa die Springergabel – ein Trick, den schon Anfänger lernen:
In diesem Beispiel greift der weiße Springer Dame und Turm gleichzeitig an, nur eine Figur kann sich retten.
Oder das Patt, wo ein Spieler keinen legalen Zug machen kann, woraufhin die Partie als unentschieden gewertet wird. Also versucht man, sich selbst in ein Patt hineinzumanövrieren, um eine eigentlich verlorene Partie noch zu einem Unentschieden zu wenden.
Hier ist Weiß am Zug, aber jede Bewegung des Königs würde in’s Schach führen.
Was sich aus diesen 11 Seiten Spezifikation an Strategien, Tricks und großartigen Schachpartien entfaltet hat, füllt mehr als 9000 Bücher (bei Amazon). Und natürlich gibt es Grenzfälle, die sicher niemand erwartet hat, als das Schachspiel erfunden wurde. Die 50-Züge-Regel ist so eine obskure Regel, sie soll verhindern, dass sich eine Schachpartie endlos hinzieht:
Die 50-Züge-Regel beim Schach besagt, dass eine Partie als remis (unentschieden) zu werten ist, wenn einer der beiden Spieler nachweist, dass in den letzten 50 aufeinanderfolgenden Zügen eines jeden Spielers weder ein Stein geschlagen noch ein Bauer gezogen wurde. […] Die 50-Züge-Regel soll endloses Hin- und Herziehen auf dem Schachbrett ohne dauerhafte Veränderungen des Stellungsbildes unterbinden. (Wikipedia)
Der internationale Fußballverband FIFA braucht übrigens auch nur ca. 50 Seiten für die offiziellen Regeln, inklusive Abseits. Die Komplexität und Geschichte der Abseitsregel zeigt, dass auch im Fußball viele praktische Erfahrungen gemacht werden mussten, um zu einer sinnvollen Spezifikation zu kommen.
Mag sein, dass die meisten Geschäftsprozesse etwas simpler sind als eine Schachpartie oder ein Fußballspiel. Aber ich glaube trotzdem, dass die auf Anhieb korrekte, widerspruchsfreie und vollständige Spezifikation einer Software eine Fiktion ist. Wir können sie getrost Spezifiktion nennen.
Matthias Berth